Donnerstag, 1. Oktober 2015

Everest (2015)

Da habe ich es mir aber so richtig gegeben: Multiplexkino, großer Saal, optimaler Platz Mitte-Mitte (aber nicht direkt hinter dem Quergang) und das alles in 3D. Ich wollte es nicht zuletzt meiner Liebsten angenehm machen, die im Allgemeinen nicht so auf Überwältigungskino wie "Everest" steht. Um sie überhaupt ins Kino zu überreden habe ich trickreich genutzt, dass Frauenschwarm Gyllenhaal und Keira Knightley (grandios in "Kick it like Beckham", gut in "Imitation Game") mitspielen (und habe im dunklen gelassen, dass zumindest Jake temperaturbedingt überwiegend bis zur Nasenspitze in einem doppelt wattierten Daunenoverall steckt)
Gyllenhaal, diesmal mit Bart. Nimmt ihm ein bisschen von seinem Lausbubencharm, finde ich.

Ich war aber auch perfekt vorbereitet: Ich hatte 1996 den Geo-Artikel zur Katastrophe am Everest gelesen, hatte mir dann „In eisigen Höhen“ von Jon Krakauer (der an der Expedition als Reporter teilgenommen hatte) und anschließend „Der Gipfel“ von Anatoli Boukrejev (der ebenfalls dabei war) gekauft. Ich bin sogar in den Alpenverein eingetreten – alles führte also logisch auf diesen Film hin, und als ich mich in den orangenen Plüschsessel sinken ließ, war ich mehr als bereit, alles prima zu finden, was ich sehen würde.


"Why did you want to climb Mount Everest?" - "Because it is there." (George Mallory, 1923)

Das hat leider nicht funktioniert. 

Der Film hatte alle Möglichkeiten, und hat aus allen nichts gemacht. Das große Bergdrama mit elf Toten, mit schicksalhaften Wendungen, wahren Helden, tragischen Fehlern, menschlicher Schwäche, dem Zorn Gottes und mit Liebesszenen, die direkt aus Exupérys „Nachtflug“ entnommen sein könnten, und ja, sogar mit der Auferstehung der Toten, hätte auf viele verschiedene Weisen ein großartiger Film sein können, so wie es auch ein großartige Geschichte ist.

Links: Hillary, links: Tenzing, die beiden Erstbesteiger des Everest. Die beiden sind nicht nur hervorragende Bergsteiger sondern auch lebenslang überragende Beispiele von Fairness und Redlichkeit

Verschenkt. Stattdessen hat Baltasar Kormákur ein blutleeres Kammerspiel von im Wesentlichen herumstehenden Bergsteigern im Kunstschneegestöber gedreht. Auf einmal sind es nur die Bergsteiger zweier Anglo-Amerikanischer Teams, die gezeigt werden – das Indische, das Japanische, das Taiwanische Team kommen nicht vor, obwohl sie nicht nur anwesend waren und ihre Bergsteiger erfroren und abgestürzt sind, sondern sie auch maßgeblichen Einfluss auf das Geschehen hatten.
"Hier stehe ich nun, seit Erdenbestehen der erste Mensch auf diesem Fleck, am Ziel meiner Wünsche. Ich bin mir der Bedeutung des Augenblicks nicht bewusst, fühle auch nichts von Siegesfreude, [...] ich bin nur froh, dass ich heroben bin und all diese Strapazen vorläufig ein Ende haben. Ich bin völlig fertig." (Hermann Buhl auf dem Nanga Parbat, 1953)

Überhaupt windet sich der Film so offensichtlich um die Frage: „Wer ist Schuld“ herum, dass er schon wieder selbst schuldig wird, und zwar der Feigheit.


DAS ist der Hillary-Step. Sieht harmlos aus, liegt aber auf 8730 Meter Höhe, wo die Luft dann auch nur ein Drittel so dicht ist wie auf Meereshöhe. Da wird schon eine Treppe zur Herausforderung
Wie ist es denn nun? Ist Boukreev der team-unfähige Egozentriker, der seine Kunden im Stich lässt (weil er ohne Sauerstoff klettert und vor den  Kundenabsteigt)? Oder ist er der selbstlose Held, moralisches Role-Model und Über-Bergsteiger, weil er in das nächtliche White-Out des Schneesturms herausgeht und, die eigene Gefahr nicht achtend, drei Menschen rettet, wo die anderen im Camp sich zitternd weigern, das Zelt zu verlassen?


Nein, das ist kein Tanga, was der Herr in der Mitte in die Höhe reckt. Auf dem Gipfel zu stehen, erzeugt bei niedrigeren Bergen Euphorie, auf 8000ern sind die Bergsteiger meist zu entkräftet um sich zu freuen.
Ist Robert Hall der fürsorgliche Straßenkehrer, der hinter dem letzten seiner Kunden geht, um sicherzugehen, dass auch alle den Weg nach unten schaffen? Oder ist er der profitgierige Hasardeur, der alle Zahler auf den Gipfel bringen will, damit in der nächsten Saison die Kasse klingelt, selbst wenn es schon zwei Stunden nach der letzten sicheren Umkehrzeit ist?

Josh Brolin spielt Beck Weathers, den kletternden Pathologe aus Texas. Als Bergsteiger war er bestenfalls mittelmäßig (und das heißt: 1000mal besser als ich). Er verlor einen Arm, eine Hand und seine Nase. Die Fotos davon sind zu grauenhaft, um sie in diesem Blog zu zeigen

Wer hat die Fixseile nicht verlegt? Wer hat die Sauerstoffflaschen leer gemacht? Wer hat wen für tot gehalten und liegengelassen? Viele Fragen, und sie werden alle nicht gestellt.

Das ist schon schlimm genug, aber leider verfehlt der Film nicht nur dramaturgisch das Klassenziel bei weitem. Auch optisch ist der Everest so offensichtlich in Südtirol beheimatet, dass es streckenweise schmerzt. Ich hätte mir auch eine etwas näher am original orientierte Darstellung insbesondere des Hillary Steps gewünscht. Besonders dort kam Kormákurs miniaturenhafte Sicht auf das Geschehen deutlich: zwei Mann, ein Seil, ein Schneehügel, statt wie es zuverlässig dokumentiert ist, -zig Leute, die sich zwei Stunden bei -25 Grad vor einem 12-Meter-Hang die Beine in den Bauch stehen.

Oben: Mallory, unten: Irvine. Diese beiden gutaussehenden Männer hatten 1921 bis 1924 die ersten ernstzunehmenden Versuche der Besteigung des Everest (über die schwierigere Nordroute) unternommen. Sie sind beide auf dem Berg geblieben, Mallory wurde erst 1999 gefunden. 

Ich habe lange versucht, in der Verzwergung der großen Geschehen etwas Positives zu finden und die Motivation des Regisseurs zu verstehen. Erst heute habe ich gelesen, dass Kormákur das Drehbuch im Wesentlichen basierend auf dem Funkverkehr zwischen den Bergsteigern und dem Basislager (plus des Erlebnisberichts von Beck Weathers) hat schreiben lassen. Das große Drama, das Krakauer und Bokejeev schildern konnten, blieben unberücksichtigt weil Krakauer die Filmrechte seines Buches bereits an Sony verkauft hatte – und die waren dort wohl zu teuer. Tja. Ein Film, dem seine Story zu teuer ist. Nicht schön. 

Friendlys Schulnote: Hätte eine Eins werden können, ist aber eine Drei. Nicht wirklich schlecht, aber auch keineswegs gut. Und leider auch ein Schandfleck im Lebenslauf des Regisseurs: Was hätte er daraus Großes machen können.


"I look back on tremendous efforts & exhaustion & dismal looking out of a tent door on to a dismal world of snow and vanishing hopes - & yet, & yet, & yet there have been a good many things to set the other side" (Mallory)

P.S.: Alle meine sorgfältigen Vorbereitungen für den optimalen Filmgenuss sind übrigens ins Leere gelaufen: an der Kinokasse habe ich unsere Karten lange vor der Vorstellung gekauft, und die haben mir Karten für die Fünf-Uhr-Vorstellung (statt für acht) gegeben!!! Wir mussten dreimal im Saal umziehen - Grrr. 

P.P.S: Mallory inspirierte E.M. Forster zur Gestalt des George Emmerson in "Room with a view" (Deutsch: Zimmer mit Aussicht), erschienen 1908. Ich kenne den Roman auch nur in der ausgesprochen gelungenen 1985er Verfilmung mit Helena Bonham Carter als jugendliche Lucy. Bonham Carter kennen wir natürlich alle als böse Bellatrix Lestrange aus den Harry-Potter-Filmen

Anatoli Boukreev als Held. Interessanterweise ist es extrem schwer, ein Foto zu finden, auf dem er nicht niedergeschlagen aussieht

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